Die AIDS-Hilfe Stuttgart gibt es seit bald 40 Jahren. Bis heute haben sich die Arbeit, die Aufgaben und der Fokus des Vereins gewandelt. Warum gerade bei jungen heterosexuellen Menschen der Beratungsbedarf und die Infektionszahlen steigen.
Die Fotos des renommierten Stuttgarter Fotografen Maks Richter zeigen die prominenten Botschafter der diesjährigen AIDS-Gala.
Jetzt, im Winter, da die Bäume kahl sind, braucht es etwas Vorstellungskraft, um die Opulenz zu erahnen, aber Fakt ist: Die Johannesstraße im Stuttgarter Westen war der erste Prachtboulevard der Stadt. Im Sommer wird sie von blühenden Rosenstöcken gesäumt. Im 19. Jahrhundert wurde die Allee angelegt, bis heute führt sie direkt zu einer der schönsten Kirchen in der gesamten Landeshauptstadt, der Johanneskirche, von manchen liebevoll Notre-Dame von Stuttgart genannt. In diesem Umfeld, in einem erhabenen alten Stadthaus, ist seit 2014 die AIDS-Hilfe Stuttgart beheimatet. Für Bernd Skobowsky, Mitglied der Geschäftsführung, ist der repräsentative Standort bis heute ein Glücksgriff. „Es war am Anfang nicht einfach, Räumlichkeiten zu finden. Für viele war das ein Bäh-Thema“, sagt er. HIV, AIDS, Krankheiten, damit wollten viele nichts zu tun haben.
Die AIDS-Hilfe Stuttgart ist eine der ältesten AIDS-Hilfen bundesweit und wurde 1985 als Selbsthilfeorganisation gegründet. Heute hat der Verein knapp 500 Mitglieder. Die Hauptaufgaben: Prävention, Aufklärungsarbeit, Testung und Unterstützung von Menschen, die mit HIV leben. Mit Bäh, um den Begriff aufzunehmen, haben die Räume der Geschäftsstelle nichts zu tun. Sie sind einladend und freundlich. Rote Schleifen und Regenbogen zieren Schreibtische und Wände, Poster mit frechen Sprüchen brechen beim für viele unangenehmen Thema Geschlechtskrankheiten mit Tabus. Und auch das gehört zur AIDS-Hilfe: eine schwarze Wand mit vielen, vielen Namen. Namen all jener, deren Leben die Infektion mit dem HIV-Virus verkürzt hat. „Wir vergessen niemanden“, so die AIDS-Hilfe Stuttgart
Wichtig sind vor allem auch die Räume im Untergeschoss, die über eine Wendeltreppe zu erreichen sind. Dort finden in einem intimeren Rahmen Gespräche statt. „Man kann sich jederzeit und kostenlos hier testen lassen“, sagt Bernd Skobowsky. HIV, Syphilis und Hepatitis C könnten innerhalb kurzer Zeit mit nur wenigen Tropfen Blut auf einem Kontrollstreifen nachgewiesen werden, „wie bei einem Blutzuckertest“, erklärt er. 2.500 Tests pro Jahr nimmt die AIDS-Hilfe Stuttgart nach eigenen Angaben vor – Tendenz steigend. Überhaupt hat sich die Arbeit der acht hauptamtlichen Mitarbeitenden und der über 120 ehrenamtlichen Helfenden in den vergangenen Jahren gewandelt. Habe man sich in der Anfangszeit des Vereins vor allem in der Betroffenenunterstützung engagiert, sei man heute zu 80 Prozent mit Prävention und Tests beschäftigt. Die Klientel ist ebenfalls anders. Dass sich die AIDS-Hilfe in erster Linie der queeren Community widmet, das war vielleicht mal. Bernd Skobowsky stellt klar: In dieser Gruppe sei das Wissen um HIV und andere sexuell übertragbare Infektionen durch eine kontinuierliche und zeitgemäße Aufklärungsarbeit längst fest verankert. Die Regenbogen-Community weiß Bescheid.
Derweil dränge eine neue Zielgruppe ins Blickfeld: junge Leute, vorwiegend heterosexuell, zudem Menschen aus anderen Kultur-kreisen. Warum? Filme wie „Philadelphia“, die großen Magazin-Coverstorys der 80er, die Krankheitsgeschichten von Sänger Freddy Mercury oder Pop-Art-Künstler Keith Haring: Dinge, die ganze Generationen geprägt haben, sind vielen Jugendlichen und Heranwachsenden heute nicht mehr präsent. „Das kennen die jungen Leute gar nicht“, sagt Bernd Skobowsky. Durch die Möglichkeiten des Online-Datings wird zudem im Bett vieles schnelllebiger, dennoch wird bei aller Offenheit nicht offen über Risiken gesprochen. „Wir haben keinen Sexualdiskurs in der Gesellschaft“, sagt der Sozialarbeiter Mustafa Kapti. Er bietet bei der AIDS-Hilfe unter anderem Telefonberatung an, und „in letzter Zeit rufen vermehrt heterosexuelle Frauen an“. Hinzu kommt, dass Deutschland multikulti ist, und damit wandern auch Menschen ein, in deren Kulturkreis Sexualbildung eine untergeordnete Rolle spielt. Auf all das muss der Verein reagieren. „Mit jedem Wandel in der Gesellschaft müssen wir umdenken“, so die AIDS-Hilfe Stuttgart.
Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung. Das Broschürenzimmer in der Geschäftsstelle ist buchstäblich bis zur Decke gefüllt mit Flyern, Heftchen und Plakatrollen. In Regalwänden, in Boxen am Boden und in Stapeln auf Tischen lagert Infomaterial zu HIV, zu Syphilis, Chlamydien und Feigwarzen, zu Übertragungswegen und Verhütungsmethoden, zu Coming-out und Sexualaufklärung, zur HPV-Impfung, zu Drogenkonsum und Anlaufstellen in unterschiedlichsten Lebenslagen. Verfügbar sind die Broschüren in mehreren Sprachen. Zudem sind Mitarbeitende der AIDS-Hilfe präventiv in Krankenhäusern tätig, um medizinisches Fachpersonal zu informieren. Es gebe eine enge Kooperation mit dem Klinikum Stuttgart. Das Team geht viel in Schulen, auf Festivals, wo junge Leute feiern, oder in Geflüchtetenunterkünfte, um Wissenslücken zu schließen. Vieles funktioniert über Streetwork, niederschwellig aufsuchende Arbeit. „Wir arbeiten wert-neutral und akzeptierend und möchten den offenen Umgang mit sexueller Vielfalt und sexueller Gesundheit fördern.
Für die Zielgruppe ist das alles kostenfrei. Die Arbeit des Vereins wird von der Stadt Stuttgart und auch vom Land Baden-Württemberg gefördert. Jährlich etwa 900.000 Euro werden benötigt, gut 350.000 Euro davon muss die AIDS-Hilfe aus eigener Kraft aufbringen. Entsprechend ist sie auf Spenden angewiesen. Einen großen Part des Budgets machen die Einnahmen aus dem Stand auf dem Stuttgarter Weihnachtsmarkt aus. Dort werden Glühwein, Kekse, Nudeln und mehr verkauft, außerdem bunte Socken. Die Freunde der AIDS-Hilfe stricken das ganze Jahr. Gestemmt wird die Arbeit am Stand vor allem von Freiwilligen. Im vergangenen Jahr haben Ehrenamtliche 274 Schichten gestemmt, erklärt Bernd Skobowsky. Eine weitere wichtige Einnahmequelle ist der Weihnachtsball, der in diesem Jahr wieder Anfang Dezember, anlässlich des Welt-AIDS-Tages in der Alten Reithalle im Zentrum der Landeshauptstadt stattgefunden hat – mit vielen prominenten Botschafter*innen, honorigen Gästen und einem umfangreichen Programm. Seit Beginn obliegt die Gesamtorganisation des Balles Shirin Ramsaier und Ihrer Agentur, die quasi die gute Fee des Weihnachtsballs ist.
In Stuttgart gibt es laut der AIDS-Hilfe Stuttgart 3.000 HIV-positive Menschen, in ganz Deutschland sind es demnach 90.000. „Nur noch“, sagt er. Seit den 80ern habe sich viel getan. Durch eine konsequente Aufklärungsarbeit sei die Zahl der Infektionen gesunken. Außerdem besteht Zugang zu guten Medikamenten. Durch moderne Therapien kommt heute eine Infektion keinesfalls mehr einem Todesurteil gleich. Mit den richtigen Medikamenten kann man mit HIV lange und gut leben und die Zahl der Viren im Blut bis unter die Nachweisgrenze drücken. „Heute können auch Menschen mit HIV ganz normal eine Familie gründen“, sagt Bernd Skobowsky. Dennoch: Verschwunden sind HIV und auch AIDS nicht. 2021 lebten weltweit 38,4 Millionen Menschen mit HIV, 15 Prozent von ihnen unwissentlich. 1,5 Millionen Menschen infizierten sich 2021 weltweit neu. 650.000 Menschen starben im Zusammenhang mit ihrer HIV-Infektion. All diese Zahlen beruhen auf Schätzungen von UNAIDS, einem gemeinsamen Programm der Vereinten Nationen.
In Deutschland sind die Infektionszahlen auf einem niedrigen Niveau, aber sie steigen wieder, vor allem bei heterosexuellen Menschen, erklärt Bernd Skobowsky. Auch die Zahlen bei anderen sexuell übertragbaren Infektionen gehen nach oben. Der AIDS-Hilfe ist daran gelegen, den Trend umzukehren. Zudem gehe es darum, von einer Stigmatisierung wegzukommen. Auch deswegen ist der Verein mit der roten Schleife glücklich über den Standort im großen, schönen Stadthaus an der Johannesstraße. „Wer hier reingeht, könnte zum Steuerberater hochgehen oder zum Test kommen“, sagt Bernd Skobowsky. Er betont: „Wir sind für Stuttgart da.“
Text: Caroline Holowiecki