Im Gespräch mit Muhterem Aras

Grundwerte, gesellschaftliche Vielfalt, Umgang mit demokratiefeindlichen Strukturen, mangelnde Kommunikation seitens der Politik mit den Bürgerinnen und Bürgern, eigenes Amtsverständnis und vieles mehr: Im Interview mit dem top magazin bezieht die baden-württembergische Landtagspräsidentin Muhterem Aras zu vielen drängenden Fragen unserer Zeit Stellung.

„Unsere Demokratie ist wehrhaft gegen ihre Feinde“

top: Frau Aras, verbale und physische Angriffe auf Politikerinnen und Politiker, zunehmende Gewaltbereitschaft und Verrohung in Teilen der Bevölkerung: Was läuft schief in unserer Gesellschaft?

Aras: Bevor ich auf diese konkrete Frage eingehe, möchte ich zunächst gerne festhalten, dass in unserer Gesellschaft und in unserem Land vieles sehr gut läuft. Nahezu 30 Millionen Menschen engagieren sich ehrenamtlich auf allen Ebenen – sei es in Vereinen, bei der Feuerwehr, in der Kirche oder woanders. Darüber hinaus genießen bei uns in Deutschland die Meinungsfreiheit und andere im Grundgesetz festgeschriebenen Rechte einen hohen Stellenwert. Viele Menschen in anderen Regionen der Welt wären dankbar, wenn sie in Deutschland leben könnten. Und wir sind, wie die letzten Wochen wieder einmal deutlich gezeigt haben, eine sehr wache Zivilgesellschaft, die auf der Straße klar Position bezieht für eine offene Gesellschaft und die Werte des Grundgesetzes. Auch die Wirtschaft, die Gewerkschaften, die Kirche, die Kultur und der Sport haben in diesem Punkt wichtige Zeichen für die Demokratie gesetzt. Selbstverständlich stehen wir auch vor großen Herausforderungen in Sachen Klima, Energie, Inflation, Fachkräftemangel oder Transformation der Wirtschaft. Viele Menschen fühlen sich angesichts der in vielen Lebens- und Arbeitsbereichen anstehenden Veränderungen überfordert. Umso wichtiger ist es, dass die Politik hierauf die richtigen Antworten gibt.

top: Was aber offensichtlich nicht genügend der Fall ist.

Aras: Die Ampel-Koalition in Berlin kann durchaus Erfolge vorweisen, sie schafft es aber nicht, das kommunikativ gut rüberzubringen und nach außen hin gemeinsam aufzutreten. Es sind eben drei sehr unterschiedliche politische Partner mit unterschiedlichen Perspektiven. In der Gasversorgungskrise nach dem russischen Angriff auf die Ukraine zum Beispiel wurden sehr schnell pragmatische Lösungen gefunden. Wer hätte gedacht, dass ein grüner Bundeswirtschaftsminister nach Katar reist und dort ein Gaslieferabkommen abschließt, um die Versorgungssicherheit in Deutschland zu gewährleisten? Bei aller Kritik an der Ampel möchte ich aber auch die Opposition nicht aus der Verantwortung nehmen. Die Opposition nimmt meiner Meinung nach zu oft in wichtigen Fragen eine Blockadehaltung ein. Ich denke da etwa an den Streit um das Wachstumschancengesetz, das mit milliardenschweren Entlastungen für die Wirtschaft verbunden ist. Bei so wichtigen Fragen für unser Land gilt es, die Parteibrille auch mal zur Seite zu legen. Das hat in den ersten Monaten der Corona-Pandemie ja gut funktioniert. Vor allem aber kann sich die Opposition jetzt nicht zurücklehnen und sich die Hände reiben. Viele der aktuellen Probleme beruhen schließlich auch auf Versäumnissen der Merkel-Regierungen. Als Stichworte nenne ich hier nur die Streichung von Förderungen in der Solarindustrie, die zu einem massiven Stellenabbau, Know-how-Verlust und in Folge zu einer Verlagerung der Produktion nach China geführt hat. Oder die marode Infrastruktur unter anderem in Sachen Digitalisierung und Verkehrswege. Wir müssen in vielen Bereichen kräftig investieren, um den Wirtschaftsstandort Deutschland und nicht zuletzt Baden-Württemberg zukunftsfähig zu machen. Deshalb benötigen wir auch dringend eine Reform der Schuldenbremse für Investitionen in Infrastruktur.

„Man sollte immer verantwortungsvoll mit seiner Wahlstimme umgehen“

top: Sie haben eine bessere Kommunikation angemahnt. Wie müsste denn ein positives Narrativ aussehen?

Aras: Es geht meiner Ansicht nach vor allem darum, den Menschen in Krisenzeiten Orientierung zu geben und ihnen klar und deutlich Lösungen aufzuzeigen. Da sind Regierung und Opposition gleichermaßen gefragt. Mir fehlt letztlich die „gemeinsame Erzählung“, die zweifelsohne die Probleme benennt, aber auch den Zusammenhalt der Gesellschaft betont und unterstreicht, dass wir nach wie vor ein starker Wirtschaftsstandort, eine starke Demokratie und ein starker Rechtsstaat sind. Und die deutlich macht, dass wir die Herausforderungen meistern, wenn die politisch Verantwortlichen an einem Strang ziehen. Wir brauchen eine solche Zukunftsperspektive, insofern müsste auch der Bundeskanzler verstärkt in die Kommunikation mit der Gesellschaft gehen. Denn auf der anderen Seite gibt es in Deutschland ja auch Kräfte, die versuchen, aus demokratiefeindlichen Erzählungen Profit zu schlagen. Also Gruppierungen, die suggerieren wollen, es läge ein Staatsversagen vor – was ja überhaupt nicht der Fall ist.

top: Um nochmals zur Eingangsfrage zurückzukommen: Die Probleme und Herausforderungen rechtfertigen ja aber keine Gewalt.

Aras: Gewalt kann in einer Demokratie niemals ein legitimes Mittel sein. Grundsätzlich können wir jeden Tag dankbar sein, dass wir in einer solchen Staatsform mit so vielen persönlichen Freiheiten leben. Insofern muss der Rechtsstaat auch mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln gegen Gewalttäter vorgehen. Zugleich rechtfertigen es die aktuellen Herausforderungen meiner Ansicht nach auch nicht, sein Kreuz an der Wahlurne bei Parteien zu machen, die in Teilen vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft werden. Als mündige Bürgerin und mündiger Bürger sollte man immer verantwortungsvoll mit seiner Wahlstimme umgehen und keine demokratiefeindlichen Strukturen unterstützen. 

top: Stichwort rechtsextrem: „Remigration“ lautet das „Unwort des Jahres 2023“. Wie geht es Ihnen ganz persönlich als Frau mit Migrationshintergrund, die seit 1978 in Deutschland lebt, mit der dahinterstehenden Idee?

Aras: Ich bin schockiert, überrascht hat es mich aber nicht. Denn schließlich ist der Begriff „Remigration“ schon lange in den Wahlprogrammen wie auch den Äußerungen einzelner Politikerinnen und Politiker der AfD verankert. Doch erfreulicherweise haben wir in Deutschland, wie vorhin schon erwähnt, eine funktionierende und wehrhafte Demokratie und eine wache Zivilgesellschaft.

top: Sie sitzen seit 2011 für die Grünen im Landtag von Baden-Württemberg, seit 2016 stehen Sie dem Parlament vor. Wie hat sich die politische Auseinandersetzung respektive Debattenkultur in dieser Zeit verändert?

Aras: Hitzige Debatten, Schlagabtausch und zivilisierten politischen Streit hat es schon immer gegeben. Das gehört dazu und bereichert eine Demokratie. Mit dem Einzug der AfD in den baden-württembergischen Landtag im Jahr 2016 gab es aber schon eine deutliche Veränderung. Und zwar dahingehend, dass in Debatten Abgeordnete aus dem anderen politischen Lager persönlich diffamiert wurden – teilweise auch mit Vokabular in Anlehnung an die NS-Zeit. Mit respektvoller Auseinandersetzung hatte das nichts mehr zu tun. Auch war es in der Legislaturperiode von 2016 bis 2021 das klare Ziel einzelner Abgeordneter, den Parlamentsbetrieb ganz bewusst zu sabotieren und demokratische Verfassungsinstitutionen ins Lächerliche zu ziehen. Ich musste daher als Landtagspräsidentin nicht nur sehr viele Ordnungsrufe erteilen, sondern auch zum ersten Mal in der Geschichte des Landtags die Polizei rufen, da ein AfD-Landtagsabgeordneter dem Sitzungsausschluss nicht Folge geleistet hatte. In den sozialen Medien war ich danach heftigen Anfeindungen insbesondere aus den Reihen der AfD ausgesetzt. Aber unsere Demokratie ist wehrhaft gegen ihre Feinde. In der aktuellen Legislaturperiode seit 2021 sind die Debatten nach wie vor hitzig, aber die Versuche, den Parlamentsbetrieb ins Lächerliche zu ziehen oder zu sabotieren, gibt es in dieser Form zum Glück nicht mehr.

„Der nächste Landtag wird hoffentlich weiblicher, jünger und diverser“

top: Debattieren Frauen anders als Männer?

Aras: Das ist schwer zu sagen, möglicherweise gibt es Unterschiede. Daraus würde ich aber nicht ableiten, dass Frauen per se eine bessere Politik machen. Dessen ungeachtet ist es mir wichtig, dass Parlamente die Gesellschaft insgesamt besser widerspiegeln. Und wenn eben die Gesellschaft zu rund 50 Prozent aus Frauen besteht und der Landtag von Baden-Württemberg aktuell gerade mal die 30-Prozent-Marke geknackt hat, ist hier noch viel Luft nach oben. Ich bin deshalb froh, dass der Landtag im April 2022 die Wahlrechtsreform beschlossen hat. Bei der Landtagswahl 2026 werden die Bürgerinnen und Bürger wie bei der Bundestagswahl zwei Stimmen haben. Mit der Erststimme wird der Wahlkreis-Kandidat oder die Wahlkreis-Kandidatin direkt gewählt, mit der Zweitstimme eine Partei. Damit ist die Hoffnung verbunden, dass der nächste Landtag weiblicher, jünger und diverser wird. Allerdings ist dies kein Automatismus, der Ball liegt bei den Parteien. Diese müssten ihre Landeslisten tatsächlich auch entsprechend vielfältig aufstellen. Das werden sie hoffentlich tun. Selbstverständlich entscheiden am Ende auch die Bürgerinnen und Bürger mit ihrem Kreuz auf dem Wahlzettel.

top: Was hat Sie denn seinerzeit dazu bewogen, in die Politik zu gehen?

Aras: Anfang der 1990er-Jahre erschütterten fremdenfeindliche Gewalttaten das Land. Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln, Solingen: Die rassistischen Angriffe auf Geflüchtete und Migrantinnen sowie Migranten schockierten mich. Die Werte, die mir so wichtig geworden waren – das Zugewandte, Offene, Vielfältige – schienen plötzlich in Gefahr. Zunächst hatte ich Angst, ging abends nicht mehr raus. Doch dann wurde mir rasch klar, dass es das nicht sein konnte. Ich wollte mich von diesen Rechtsextremisten nicht zu einer Fremden erklären lassen. Deutschland ist auch mein Land und meine Heimat. Insofern war es für mich nur logisch, Verantwortung zu übernehmen und mich politisch zu engagieren, um mitgestalten zu können. Ich kann es nicht oft genug wiederholen: Unsere Demokratie, unser Rechtsstaat mit seinen im Grundgesetz verankerten Werten ist der größte Schatz, den wir haben. Und den müssen wir schützen und bewahren.

top: Dass Sie zu den Grünen gegangen sind, war für sie von vornherein klar?

Aras: Nein, ich habe mir neben den Grünen tatsächlich auch die SPD genauer angeschaut. Für die Grünen habe ich mich am Ende aber aufgrund ihrer Einstellungen zu den Menschenrechten, ihres Umgangs mit Minderheiten und vor allem ihres Einsatzes für die Gleichberechtigung von Männern und Frauen entschieden.

top: Wie sehen Sie selbst Ihr Amt als Landtagspräsidentin? Was können Sie in dieser Funktion bewirken?

Aras: Mich begeistert, in diesem Amt parteiübergreifend an Grundsatzthemen arbeiten zu können. An Themen also wie zum Beispiel Grundwerte und Gleichberechtigung oder Demokratie und Teilhabe. Darüber hinaus finde ich es ungemein spannend, mich ohne Parteibrille mit Fragen zu befassen wie: Was hält uns zusammen? Was macht Heimat aus? Oder wie schaffen wir es, Menschen aus anderen Staaten so zu integrieren, dass sie sich hier bei uns heimisch fühlen? Denn wenn sie das tun und sich mit unseren Werten identifizieren, werden sie sich auch engagieren und Verantwortung übernehmen. Mein Amt öffnet mir unglaublich viele Türen zu den verschiedensten Institutionen und verschafft mir Begegnungen mit spannenden Menschen auf allen Ebenen. Mir als Landtagspräsidentin geht es um unsere Demokratie, um den Wirtschaftsstandort, um unsere soziale Marktwirtschaft. Das ist viel größer als jede Partei – und genau das ist das Schöne an diesem Amt.

top: Wären Sie grundsätzlich nicht auch eine potenzielle Nachfolgerin für Winfried Kretschmann?

Aras: Ich bin froh, dass wir mit Winfried Kretschmann einen Ministerpräsidenten haben, der in der Bevölkerung nach wie vor sehr beliebt ist. Er hat immer gesagt, dass er sein Amt bis zum Ende dieser Legislaturperiode ausüben wird. Zu gegebener Zeit werden wir entscheiden, wer am besten seine Nachfolge antreten kann. Bei den Grünen sind wir in der glücklichen Lage, mehrere Frauen und Männer in unseren Reihen haben, die dafür in Frage kommen.

Das Gespräch führten Matthias Gaul und Kirsi Fee Wilhelm

Fotos: Maks Richter


Zu Muhterem Aras

 Geboren 1966 in Anatolien in der Türkei, kam Muhterem Aras im Alter von zwölf Jahren mit ihren Eltern nach Deutschland. Nach der mittleren Reife in Nürtingen und dem Abitur am beruflichen Gymnasium Johann-Friedrich-von-Cotta-Schule in Stuttgart absolvierte sie in Hohenheim ein Studium der Wirtschaftswissenschaften. Studienbegleitend arbeitete sie in der Fraktionsgeschäftsstelle der Grünen im Stuttgarter Rathaus. Von 1994 bis 1999 war Muhterem Aras Angestellte im steuerberatenden Bereich, im Jahr 2000 erfolgte die Gründung ihrer eigenen Steuerberaterkanzlei in Stuttgart-Mitte. Von 1999 bis 2011 war sie Mitglied des Stuttgarter Gemeinderats, ab 2007 Fraktionsvorsitzende der Grünen. Bei der Landtagswahl im April 2011 gewann Muhterem Aras das Erstmandat im Stuttgarter Wahlkreis I und war in dieser Wahlperiode Mitglied des Bildungsausschusses sowie Vorsitzende des Arbeitskreises Finanzen und Wirtschaft und finanzpolitische Sprecherin der Landtagsfraktion der Grünen. Bei den Landtagswahlen 2016 und 2021 errang sie erneut das Erstmandat, seit 11. Mai 2016 ist Muhterem Aras Präsidentin des Landtags. Die verheiratete Mutter zweier Kinder engagiert sich darüber hinaus unter anderem im Stiftungsrat der Bürgerstiftung Stuttgart, im Kuratorium des Fördervereins collegium iuvenum Stuttgart e.V. (CIS), im Kuratorium des Deutsch-Türkischen Forums Stuttgart e.V. sowie im Stiftungsrat der Stiftung Hospitalhof Stuttgart.

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