Im Gespräch mit Tim Lamsfuß

„Am Ende geht es darum, gemeinschaftlich den Spitzensport in Deutschland zu fördern“

Nach Olympia ist vor Olympia: 2026 steigen in Cortina d’Ampezzo die nächsten Winterspiele, 2028 in Los Angeles die nächsten Sommerspiele. Die verschiedenen Olympiastützpunkte (OSP) in Deutschland nehmen dabei eine wichtige Funktion ein – und zwar als Betreuungs- und Serviceeinrichtungen für Athletinnen und Athleten der olympischen Disziplinen sowie deren Trainerinnen und Trainer. Wir sprachen mit Tim Lamsfuß, Leiter des OSP Stuttgart, über seine Arbeit wie auch über seine Bilanz für Paris 2024, wo bei Olympia und den Paralympics rund 60 Sportlerinnen und Sportler aus Stuttgart und der Region am Start waren.

top: Tim, Olympia und die Paralympics 2024 sind Geschichte. Bist Du zufrieden mit der Medaillenausbeute der deutschen Athletinnen und Athleten?

Tim: Aus Stuttgarter Sicht ja. Mit fünfmal Gold, viermal Silber und einmal Bronze haben wir eigentlich mehr erreicht, als wir ursprünglich erwartet hatten. Dass es auch noch viele Platzierungen zwischen den Positionen 4 und 8 zu verzeichnen gab – auch durch ganz junge Sportlerinnen und Sportler –, zeigt deutlich, dass wir grundsätzlich auf dem richtigen Weg sind. Für Deutschland insgesamt war Paris aber meiner Ansicht nach eher enttäuschend. Durch die verschiedenen Leistungssportreformen der letzten Jahre ist zwar immer mehr Geld im System, aber es kommen immer weniger Medaillen dabei raus. Man müsste sich schon mal Gedanken machen, woran das liegt – auch mit Blick auf die Nachbarländer.

top: Wo müsste eingesetzt werden?

Tim: Wir seitens des OSP Stuttgart würden es begrüßen, die Athletinnen und Athleten durch eine Infrastruktur auf Weltstandard und eine maßgeschneiderte Betreuung davon überzeugen zu können, dass der hiesige Standort für sie genau das Richtige ist. Häufig werden in Deutschland die Sportlerinnen und Sportler einfach an einen Standort hin delegiert. Darüber hinaus sollten die einzelnen OSP sich als gesunde Konkurrenz sehen. Wir müssen vielmehr alle an einem Strang ziehen und schauen, was man etwa vom Ausland lernen kann. Gleichzeitig sollte man auch noch mehr zuhören, was die Athleten und Trainer tatsächlich brauchen. Meiner Meinung nach kommt es darauf an, jede Sportart und
jeden Athleten individuell zu betrachten und eine maßgeschneiderte Lösung zu finden. Damit ließe sich schon einiges erreichen.

top: Was die Infrastruktur anbelangt, scheint diese ja in Stuttgart sehr gut zu sein. Schließlich hat sich hier die jamaikanische Leichtathletik-Mannschaft auf Olympia vorbereitet.

Tim: Absolut, die Anwesenheit der Jamaikaner mit Superstars wie Hansle Parchment war schon eine besondere Auszeichnung für diesen Standort. Dass sich parallel viele unserer deutschen Leichtathleten in Kienbaum vorbereitet haben, muss man nicht verstehen. 

top: Du warst in Paris vor Ort. Wie hast Du die Spiele erlebt?

Tim: Es war ein einzigartiges Erlebnis. Im Vorfeld wurde ja viel unter anderem über das Sicherheitskonzept diskutiert. Aber die Franzosen hatten alles perfekt organisiert. Was mir auch besonders gefallen hat, war die Integration der Sportstätten ins Stadtbild – ob am Eiffelturm, an der Seine oder im Schloss von Versailles, um nur drei Beispiele zu nennen.

top: Hast Du Dir als ehemaliger Spitzen-Judoka die Judo-Wettbewerbe besonders genau angeschaut?

Tim: Ehrlich gesagt weniger. Durch das geänderte Regelwerk hat der Judosport für mich doch einiges an Attraktivität verloren. Im Fernsehen schaue ich mir einzelne Wettkämpfe schon an, aber ich fahre deswegen nicht mehr extra dorthin. Dessen ungeachtet schätze ich die Leistungen der Judoka
extrem. Leider ist für Deutschland durch Miriam Butkereit mit Silber nur eine Medaille herausgesprungen. Die aus Ravensburg kommende zweifache Judo-Weltmeisterin Anna-Maria Wagner konnte ihren Erfolg aus Tokio nicht wiederholen und wurde „nur“ Fünfte. Meiner Meinung nach hatte sie die Chance, ganz vorne mit dabei zu sein. Aber so ist das eben im Spitzensport – das sieht man ja auch in vielen
anderen Disziplinen. Man kann nicht automatisch jeden Tag seine beste Leistung abrufen.

top: Zurück zum OSP: Was passiert dort eigentlich genau?

Tim: Wir sind letztlich eine Betreuungs- und Serviceeinrichtung für die Athletinnen und Athleten der olympischen Disziplinen und deren verantwortliche Trainerinnen und Trainer. Bis auf das fachspezifische Training beim jeweiligen Verband machen wir hier am OSP die überfachliche Betreuung. Ebenso werden die Athletinnen und Athleten der paralympischen und der deaflympischen Disziplinen versorgt. Soll heißen: In unseren Händen liegt die Sicherstellung einer qualitativ hochwertigen sportmedizinischen, physiotherapeutischen, trainings- und bewegungswissenschaftlichen, sozialen, psychologischen und ernährungswissenschaftlichen Betreuung. Dazu kommt die regionale sportartenübergreifende Koordination und Steuerung der Leistungssportentwicklung in den Schwerpunktsportarten. Darüber hinaus sorgen wir für die bestmögliche Vereinbarung von Schule, Ausbildung und Beruf mit dem Leistungssport.

top: Und Du bist als Leiter derjenige, der das Ganze koordiniert.

Tim: So kann man das sagen. Ich denke, dass man vor ein paar Jahren als OSP-Leiter noch mehr ins Sportgeschehen involviert war. Aufgrund der Größe, der Personalstruktur, der Finanzen und den vielen Abstimmungen mit dem Bundesinnenministerium und dem Landesministerium ist man inzwischen hauptsächlich mit verwaltungstechnischen Aufgaben beschäftigt. Vor zehn Jahren waren am OSP Stuttgart zehn Mitarbeiter beschäftigt, betreut wurden etwa 200 Kaderathleten. Heute betreuen 50 haupt- und 50 über Verträge angestellte Mitarbeiter annähernd 600 Kaderathleten. Das ist schon eine ganz andere Hausnummer. Aber selbstverständlich gehe ich regelmäßig durch die Hallen und zu den Sportstätten, um mit den Athletinnen und Athleten persönlich zu sprechen und zu erfahren, was gut läuft und was vielleicht noch zu optimieren ist.

„Man muss erkennen können, wann die eigene Zeit vorbei ist.“

top: Ab wann kommen Athletinnen und Athleten in den Genuss, an einem OSP betreut zu werden?

Tim: Das ist grundsätzlich möglich, sobald sie den Bundeskaderstatus erreicht haben. Daneben hat aber jeder OSP gewisse Spielräume. Wenn zum Beispiel Sportlerinnen oder Sportler etwa aus Landessicht interessant sind, können sie möglicherweise auch ohne Bundeskaderstatus betreut werden. Auch was die Gewichtung der jeweiligen Förderung anbelangt, ist dies von OSP zu OSP unterschiedlich.

top: Steht man mit den anderen Stützpunkten im Wettbewerb?

Tim: Ich würde eher von gesunder Konkurrenz sprechen. Letztlich hat jeder OSP das Ziel, der erfolgreichste zu sein. Und je besser der andere wird, desto mehr muss man selbst nachlegen. Am Ende geht es aber darum, gemeinschaftlich den Spitzensport in Deutschland zu fördern. Dies sollte man nicht allein an den Nominierten und den Medaillen bei Olympia festmachen. Vielmehr geht es vor allem auch um die Frage, wie viele Nachwuchsathletinnen und -athleten man generell in die Weltspitze führt.

top: Was motiviert Dich denn für Deine tägliche Arbeit?

Tim: Mein Anspruch ist es, Athletinnen und Athleten im Spitzensport zu helfen und einen Teil dazu beizutragen, dass sie ihren persönlichen Traum realisieren können. Für diesen Job muss man positiv bekloppt sein und letztlich auch ein dickes Fell haben. Denn Lob erfährt man eher selten. Meistens werden Probleme an einen herangetragen. Aber wenn man am Ende glückliche und erfolgreiche Sportlerinnen und Sportler sieht, entschädigt das für vieles und bereitet einfach Freude.

top: Welche langfristigen Ziele hast Du für den OSP Stuttgart?

Tim: Ich schaue jetzt erst mal auf die nächsten vier Jahre und überlege mit meinem Team, was man noch besser machen kann. Wichtig ist, dass man sich dabei persönlich nicht zu wichtig nimmt, sondern die Zukunft gemeinschaftlich plant und den Fokus der Athleten und Trainer nicht aus den Augen verliert. Es geht immer um die Sache. Hierfür muss man offen sein für Neues und auch die internationalen Entwicklungen im Leistungssport im Blick behalten. Und man muss erkennen können, wann die eigene Zeit vorbei ist – man also die gesetzten Ziele nicht mehr erreichen oder die Erwartungen nicht mehr erfüllen kann. Da darf man sich nichts schönreden. 

Das Gespräch führten Kirsi Wilhelm und Matthias Gaul 

Fotos: Maks Richter