Im Gespräch mit Timo Hildebrand

„Wir leben in einer knallharten Leistungsgesellschaft“

Er war Teil des legendären VfB-Meisterteams 2007, Nationaltorwart und Bundesliga-Rekordhalter – schon seit einigen Jahren ist Timo Hildebrand aber auf ganz neuen Wegen unterwegs. Heute betreibt er in Stuttgart das vegane Restaurant vhy!, setzt sich mit Yoga und Achtsamkeit auseinander und sitzt im Vorstand der Hilfsorganisation STELP. Im Interview mit top magazin spricht der heute 46-jährige Markenbotschafter des VfB über seine Karriere und weitere Themen wie Ernährung und soziales Engagement.

top: Timo, nach 28 Jahren ist der VfB wieder Pokalsieger. Du warst in Berlin live mit dabei. Wie hast Du die Stimmung während und nach dem Spiel erlebt?
Timo: Es war überragend, ein richtig schönes
und intensives Wochenende. Endlich wieder den Titel geholt! Gleichzeitig bin ich auch sehr dankbar, Teil der VfB Familie sein zu dürfen.

top: Hat Dich der grandiose Schlussspurt des VfB nach den zuvor häufig durchwachsenen Spielen überrascht?
Timo: Nein, die Mannschaft hatte immer mal wieder schwächere Phasen. Sie haben allerdings  rechtzeitig zum Finale nochmal Selbstvertrauen gesammelt und somit berechtigt den Pokal gewonnen. Die Saison ist damit gerettet und wir können uns alle nächstes Jahr wieder auf internationale Spiele freuen. 

top: Wenn du deine aktive Karriere in wenigen Worten zusammenfassen müsstest, wie sähe die Bilanz dann aus?
Timo: Ich habe eine riesige Bandbreite an Erfahrungen gesammelt: deutsche Meisterschaft, das Sommermärchen 2006, die Zeit bei der Nationalmannschaft, aber auch Vereinslosigkeit und das Abenteuer Ausland. Es war alles dabei – Höhen, Tiefen, intensive Phasen. Das hat mich definitiv geformt, sportlich und menschlich.

top: Du hältst immer noch den legendären Rekord von 884 Minuten ohne Gegentor saisonübergreifend in den Spielzeiten 2002/2003 und 2003/2004. Ist so etwas heute überhaupt noch möglich?
Timo: Rekorde sind immer auch dazu da, um geknackt zu werden. Natürlich ist das Spiel heute schneller geworden, aber man weiß nie. Noah Atubolu vom SC Freiburg und andere sind jedenfalls schon nah dran. Zugleich sage ich auch immer: Ich habe das damals nicht alleine geschafft, das war eine Mannschaftsleistung.

top: Erinnerst du dich noch an das erste Gegentor nach dieser langen Zeit?
Timo: Klar, das war am neunten Spieltag der Saison 2003/2004 gegen
Werder Bremen in der 60. Minute. Allerdings hätte der Treffer von Angelos Charisteas gar nicht zählen dürfen, da der Ball bei der Flanke von Fabian Ernst bereits über die Torauslinie gerollt war. Am Ende waren wir in der Mannschaft aber froh über das Tor, denn es drehte sich alles nur noch um die Frage, wie lange der Rekord noch hält.

top: Wie hat sich der Profifußball in den letzten Jahren aus deiner Sicht verändert?
Timo: Extrem. Allein durch Social Media, die ständige Öffentlichkeit und das permanente Beobachtetwerden ist das mittlerweile eine ganz andere Nummer. Heute kannst du dir nichts mehr erlauben, alles wird dokumentiert, kommentiert, verbreitet. Früher waren wir unter der Woche häufig in Stuttgart in der Boa. Das wäre heute undenkbar. Die Jungs müssen sich schon zu ihrem eigenen Schutz ganz anders abschotten, als dies bei uns damals der Fall war.

top: Und der Umgang mit Druck?
Timo: Der Druck ist viel größer. Wir leben in einer knallharten Leistungsgesellschaft. Woche für Woche musst du abliefern – vor Millionen Zuschauern. Damit muss man gut umgehen können. Daneben ist es aber auch wichtig, stets auf sein Inneres zu hören. Grundsätzlich glaube ich schon, dass heute mehr Akzeptanz dafür da ist, sich auch mal Hilfe etwa von Mentaltrainern oder Psychologen zu holen, ohne gleich dafür verurteilt zu werden.

top: Du sagtest einmal, mentale Stärke sei eine Charakterfrage. Wie bist du damit umgegangen?
Timo: In der Tat hatte auch ich schwierige Phasen, in denen ich mir Hilfe geholt habe – ganz ohne großes Aufheben. Ich denke, der Umgang mit Druck trennt Topspieler, die ganz lang auf sehr hohem Niveau spielen und Drucksituationen meistern können, von den anderen. Es gibt viele Trainingsweltmeister, die dann aber, wenn es darauf ankommt, auf dem Platz scheitern. Das kann dann zu einer großen mentalen Krise führen.

top: Wo siehst du problematische Entwicklungen im Fußball?
Timo: Die Anzahl der Spiele ist krass geworden – Club-WM, EM, Liga, alles ohne echte Pause beziehungsweise Regeneration. Das erhöht die Verletzungsgefahr ungemein. Es wird zwar ständig optimiert und die Kadergröße erweitert, trotzdem ist für den einzelnen Spieler irgendwann auch physisch eine Grenze erreicht, ab der das geforderte Leistungspensum kaum mehr ohne negative Folgen bewältigt werden kann.

„Wir verwenden so gut wie keine Ersatzprodukte, sondern lassen das Gemüse für sich sprechen.“

top: Themenwechsel: 2021 hast du in Stuttgart das vegane Restaurant vhy! eröffnet. Wie kam es dazu?
Timo: Ich wollte eigentlich nie ein klassischer Gastronom sein. Aber mir liegt das Thema Ernährung und Nachhaltigkeit am Herzen. Ich hatte schon Jahre zuvor in ein veganes Unternehmen investiert und mich immer mehr damit beschäftigt – und irgendwann war klar: Das ist mein Ding. Das Restaurant ist mein Weg, das Thema in die Öffentlichkeit zu bringen. Ob Klimawandel, Wasserverbrauch, Tierschutz oder Gesundheit: Es liegen viele Fakten auf dem Tisch, die einfach dafür sprechen, weniger Tiere zu essen. Gesunde Ernährung spielt ja gerade auch im Sport eine ganz zentrale Rolle. Nicht ohne Grund ernähren sich immer mehr Profisportler vegetarisch oder sogar vegan.

top: Wie waren die Anfänge mit dem eigenen Restaurant?
Timo: Anstrengend! Ich war plötzlich Bauleiter und hatte mit Umbauten, Genehmigungen oder Personalthemen zu tun. Aber jetzt nach vier Jahren haben wir ein tolles Team, viele unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind selbst vegan und leben das Thema wirklich. Das macht den Unterschied.

top: Was ist euer kulinarisches Aushängeschild?
Timo: Unsere Maultasche! Die lassen wir mittlerweile sogar in Heilbronn produzieren – mit veganem Bierhefeprotein, das aus Brauereiabfällen gewonnen wird. Das ist total nachhaltig und vollwertig. Generell wechseln wir alle paar Monate die Karte – immer saisonal, kreativ, vielseitig. Sehr gut kommen auch unsere Fine-Dining-Abende an, bei denen wir bei einem sechs- oder siebengängigen Menü mit Weinbegleitung zeigen können, wie vielseitig und geschmacksintensiv die vegane Küche ist. 

top: Wie begegnest du Vorurteilen gegenüber veganer Ernährung?
Timo: Indem ich auf jeden Fall nicht belehre. Ich will nicht missionieren, sondern inspirieren. Niemand mag Dogmatismus. Viele sind sich übrigens nicht mal dessen bewusst, dass sie vegan essen, wenn sie etwa Spaghetti aus Hartweizengries mit Tomatensauce zubereiten. Pflanzliche Küche kann so vielfältig sein. Wir verwenden so gut wie keine Ersatzprodukte, sondern lassen das Gemüse für sich sprechen.

top: Wie reagiert dein früheres Ich auf deinen heutigen Lebensstil?
Timo: Es würde sagen: „Krass, was ist mit dir passiert?“ Früher habe ich wie damals viele junge Menschen mit 20 Jahren nicht großartig über Gesundheit oder Ernährung nachgedacht. Heute habe ich Zugriff auf Wissen, will es besser machen und tue das aus Überzeugung.

„Ich liebe es, frei zu sein und gleichzeitig etwas zu bewegen.“

top: Du praktizierst auch Yoga und hast sogar einen Triathlon absolviert. Ist das dein Weg, körperlich in Balance zu bleiben?
Timo: Ja, nach der sportlichen Karriere musste ich mich neu sortieren. Yoga war ein Teil davon. Inzwischen mache ich mehr Krafttraining, probiere aber immer gerne neue Dinge aus. Gerade für Männer bedeuten Yoga oder Meditation oft einen Sprung raus aus der eigenen Komfortzone. Aber diesen Sprung und den Blick über den eigenen Horizont hinaus erachte ich für ungemein wichtig.

top: Streifen müssen wir abschließend noch dein Engagement für die Stuttgarter Hilfsorganisation STELP: Was hat dich dazu bewogen, hier einzusteigen?
Timo: Ich habe vor ein paar Jahren mal einen interessanten Zeitungsartikel über STELP gelesen und daraufhin Kontakt mit dem Gründer Serkan Eren aufgenommen. Nach zwei Spendenaktionen für STELP, an denen ich beteiligt war, ergab sich für mich die Gelegenheit, bei Einsätzen in der Türkei und in Uganda mit dabei zu sein. Das war schon beeindruckend, zugleich aber auch sehr bedrückend. Ich habe gesehen, dass Serkan und sein Team alles genau so machen, wie ich es mir bei einer eigenen möglichen Stiftung vorgestellt hätte. Seitdem bin ich bei STELP mit an Bord und gehöre auch dem Vorstand an. Das Schöne an dieser Hilfsorganisation ist, dass sich jeder ganz nach seinen eigenen Möglichkeiten einbringen kann – ob im Non-Profit-Café Natan, im Marketing, als Netzwerker oder bei Projekten im Ausland, um nur ein paar wenige Beispiele zu nennen. Mir persönlich ist es wichtig, nicht nur mit meinem Namen für STELP zu stehen, sondern aktiv zu helfen.

top: Welche Projekte stehen in naher Zukunft an?
Timo: Ideen habe ich genügend: Kooperationen mit Firmen, Talks, vielleicht ein Projekt von vhy! mit der Deutschen Bahn. Ich liebe es, frei zu sein und gleichzeitig etwas zu bewegen. Und am allerwichtigsten: Ich bin sehr gerne Vater. Die Zeit mit meinem Sohn ist mir heilig. 

Das Gespräch führten Kirsi Fee Wilhelm und Matthias Gaul

Fotos: Maks Richter

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