„Wenn wir jetzt unsere Hausaufgaben nicht machen, wird immer mehr Wertschöpfung in andere Länder abfließen.“
Zollstreit, Finanzpaket, Wettbewerbsfähigkeit durch Innovation, Bürokratieabbau, Klimaschutz, Frauen in Führungspositionen und vieles mehr: Auf der Agenda von Baden-Württembergs Wirtschaftsministerin Dr. Nicole Hoffmeister-Kraut steht eine ganze Reihe brisanter Themen. Wo die gebürtige Balingerin die größten Herausforderungen für das Land sieht und wie diese gemeistert werden können, verrät sie im Interview mit top magazin.


top: Frau Dr. Hoffmeister-Kraut, Deutschland steht aktuell vor großen wirtschaftlichen Herausforderungen. Ein großes Thema ist das Finanzpaket respektive Sondervermögen. Wie stehen Sie dazu?
Hoffmeister-Kraut: Unter den aktuell dramatischen Bedingungen, in denen Deutschland und Europa zunehmend ihre Verteidigung selbst finanzieren und aufbauen müssen, halte ich es für richtig, dass über eine Modifizierung der Schuldenbremse die finanziellen Mittel für unsere Verteidigungsfähigkeit bereitgestellt werden. Unsere Sicherheit steht auf dem Spiel, und das hat direkte Auswirkungen auf unsere Wirtschaft und Gesellschaft. Die europäische Sicherheitsarchitektur, wie wir sie über Jahrzehnte kannten, trägt nicht mehr in der bisherigen Form. Wir müssen hier neue Wege gehen, um unsere Souveränität, Stabilität und Freiheit zu sichern.
top: Europa ist in vielen Bereichen von den USA abhängig, insbesondere wirtschaftlich. Ist es nicht an der Zeit, sich stärker auf eigene Beine zu stellen?
Hoffmeister-Kraut: Die USA sind unser größter Handelspartner, unsere Handelsbeziehungen sind historisch gewachsen und seit Langem stabil. Mit dem neuen Präsidenten hielt nun ein veränderter Kurs in der Handelspolitik Einzug ins Weiße Haus, auf den wir uns einstellen müssen. Die Planbarkeit für unsere Unternehmen geht im Moment verloren. Sie sehen sich mit Zöllen konfrontiert, was zur Verteuerung von Waren führen wird – vorwiegend übrigens auch in den USA. Angesichts der Bedeutung des amerikanischen Marktes für unsere Wirtschaft halte ich es dennoch für wichtig, dass wir weiter den Dialog pflegen und mit der US-Regierung nach konstruktiven Lösungen suchen. Klar ist aber auch: Die geopolitische Lage erfordert, dass Europa seine wirtschaftliche Eigenständigkeit stärkt. Wir müssen gezielt in Forschung, Entwicklung und Produktion investieren, um von externen Faktoren unabhängiger zu werden.
top: Gerade Baden-Württemberg als Automobil- und Zuliefererstandort ist von den Schwankungen im Welthandel betroffen. Wie können Unternehmen sich darauf einstellen?
Hoffmeister-Kraut: Die Automobilbranche steht durch neue Antriebsformen, Digitalisierung und die weltweite Konkurrenz vor großen Herausforderungen. Der Markteintritt insbesondere chinesischer Hersteller hat den Wettbewerb enorm verschärft. Viele Unternehmen sind zudem komplett in die internationale Arbeitsteilung integriert – sie sourcen in China, produzieren in Thailand oder Malaysia und liefern dann in die Welt. Wenn es durch neue Handelskonditionen zu Verzerrungen kommt, hat dies verständlicherweise erhebliche Auswirkungen auf diese Unternehmen. Umso mehr muss angesichts dieser vielfältigen Herausforderungen unser Weg sein, über technologische Innovationen wettbewerbsfähig zu bleiben.
„Die letzte Bundesregierung hat leider in allen Bereichen für Unsicherheiten gesorgt.“
top: Dafür braucht es aber auch verlässliche Rahmenbedingungen.
Hoffmeister-Kraut: Absolut, die nächste Bundesregierung muss jetzt dringend die überfälligen Strukturreformen für unsere Wirtschaft auf den Weg bringen. Unsere Unternehmen brauchen wieder mehr Gestaltungsfreiheiten. Daher fordere ich den Abbau überbordender Bürokratie und schnellere Verwaltungsprozesse auch mithilfe von Digitalisierung und künstlicher Intelligenz. Zugleich müssen die Produktionskosten und die Steuern gesenkt, die Energie günstiger und die Versorgungssicherheit gewährleistet werden. Außerdem müssen die Rahmenbedingungen für Forschung und Entwicklung verbessert werden, um Innovationen und nachhaltige Produktionsprozesse zu fördern. Die letzte Bundesregierung hat leider in allen Bereichen für Unsicherheiten gesorgt und zu massiven Verwerfungen auf den Märkten beigetragen. Wir sind immer noch ein wirtschaftsstarkes Land. Aber wenn wir jetzt unsere Hausaufgaben nicht machen, dann wird immer mehr Wertschöpfung in andere Länder abfließen.
top: Apropos Bürokratieabbau: Wie sieht Ihr Plan aus, um die Regulierungsdynamik zu bremsen?
Hoffmeister-Kraut: Grundsätzlich hat natürlich jede Regelung für die jeweiligen Zielgruppen ihre Sinnhaftigkeit. Die Politik denkt sich ja nicht irgendwelche Regeln aus, um die Menschen zu gängeln. Aber es ist in den vergangenen Jahren durch Regulierungen auf EU-, Bundes- und Landesebene in der Summe einfach zu viel geworden. Aufgrund dieser Überregulierung habe ich schon vor zwei Jahren ein Moratorium zu den Berichtspflichten bei der EU eingefordert. Im Land haben wir Initiativen wie die Entlastungsallianz gestartet, die unnötige Regulierungen abbauen soll. Gleichzeitig arbeiten wir daran, Genehmigungsverfahren zu beschleunigen, besonders in den Bereichen Infrastruktur und Energieversorgung. Doch das allein reicht nicht aus. Wir müssen grundsätzlich hinterfragen, welche Regelungen noch zeitgemäß sind. Viele Unternehmen beklagen, dass sie mehr Zeit mit Dokumentationspflichten als mit ihrem eigentlichen Geschäft verbringen. Da sehe ich dringend Handlungsbedarf. Bürokratieabbau bedeutet nicht Regelabbau um jeden Preis, sondern gezieltes Entschlacken von Vorschriften, die den Mittelstand und Innovationen unnötig hemmen. Dringend
notwendig sind deshalb unter anderem auch zügige Verhandlungen über das Omnibus-Paket der EU, damit die Entlastung bei den Berichts- und Dokumentationspflichten schnell vorankommt und Unternehmen endlich die benötigte Planungs- und Rechtssicherheit erhalten. Ich begrüße ausdrücklich die vorgesehene Fristverschiebung bei der Umsetzung der sogenannten Nachhaltigkeitsberichterstattungsrichtlinie und dem europäischen Lieferkettengesetz. Auch
die deutliche Reduzierung des Berichtskreises und den Wegfall der sektorspezifischen Standards zur Nachhaltigkeitsberichterstattung werte ich als wichtiges Signal an die Unternehmen.
„Klimaschutz kann nicht über Regulierungen und Verbote erzwungen werden.“
top: Die von Ihnen angesprochene technologische Innovation erfordert Investitionen. Wie unterstützen Sie besonders mittelständische Unternehmen?
Hoffmeister-Kraut: Unsere Förderbank L-Bank bietet zinsgünstige Kredite und Beteiligungen für Unternehmen. Die L-Bank hat auch spezielle Programme unter anderem für Start-ups aufgelegt – so zum Beispiel die Startfinanzierung 80, eine Kombination aus zinsverbilligtem Darlehen und 80-prozentiger Bürgschaft durch die Bürgschaftsbank Baden-Württemberg. Wichtig ist aber auch, dass die Banken trotz der ihnen nach der Finanzkrise auferlegten Restriktionen ihre Verantwortung gegenüber den Unternehmen ernst nehmen und dem Mittelstand zur Seite stehen.
top: Wie Sie unlängst an anderer Stelle gesagt haben, bleiben die Klimaziele wichtig, gleichzeitig müsse aber die Wirtschaftspolitik stärker priorisiert werden. Wie balancieren Sie die Ziele des Klimaschutzes mit den Bedürfnissen der Wirtschaft aus?
Hoffmeister-Kraut: Der Klimawandel ist bereits greifbar und wir müssen selbstverständlich alles tun, um die weitere Erderwärmung in den Griff zu bekommen. Wenn wir aber den Fokus allein auf den Klimaschutz legen, werden wir die Klimaziele nicht erreichen. Wir müssen begreifen, dass sich Klimaschutz nur durch Wachstum finanzieren lässt. Deshalb ist eine funktionierende Wirtschaft die Basis dafür. Angesichts der aktuellen Lage der Wirtschaft müssen wir alles daransetzen, die notwendigen Strukturreformen umzusetzen und unseren Standort wieder wettbewerbsfähig zu machen. „Wirtschaft first“ sollte jetzt für eine Zeit lang die Devise sein, ohne dabei die Klimaziele aus den Augen zu verlieren. Wir müssen dekarbonisieren, hierfür sind technologische Innovationen und bahnbrechende revolutionäre Entwicklungen der Schlüssel. Klimaschutz kann nicht über Regulierungen und Verbote erzwungen werden. Die Wirtschaft braucht Spielraum, um neue Konzepte zu entwickeln, ohne durch übermäßige Auflagen ausgebremst zu werden.
top: Seit Jahren setzen Sie sich auch stark für die Förderung von Frauen in Führungspositionen ein. Welche Fortschritte sehen Sie hier in Baden-Württemberg und welche weiteren Schritte sind notwendig, um die Gleichstellung in der Wirtschaft voranzutreiben?
Hoffmeister-Kraut: Wir haben Fortschritte gemacht, aber es gibt noch viel zu tun. In der ersten Führungsebene sind inzwischen rund 30 Prozent Frauen vertreten, in der zweiten 40 Prozent. Wir fördern beispielsweise über unser Projekt „Spitzenfrauen Baden-Württemberg“ Netzwerke und Programme, um Frauen gezielt zu unterstützen. Meiner Ansicht nach können Unternehmen nicht mehr auf das Potenzial von hoch qualifizierten Frauen verzichten, wenn sie zukunftsfähig bleiben möchten. Das gilt nicht nur mit Blick auf den demografischen Wandel und den Fachkräftemangel. Wir müssen zudem die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verbessern. Dazu gehören eine bessere Kinderbetreuung, flexiblere Arbeitsmodelle und eine stärkere Wertschätzung für weibliche Karrieren in technischen Berufen. Frauen müssen ermutigt werden, Führungspositionen anzustreben, und Unternehmen müssen erkennen, dass gemischte Teams langfristig erfolgreicher sind.
top: Führen Frauen anders als Männer?
Hoffmeister-Kraut: Frauen haben oft einen integrativeren und teamorientierteren Führungsstil. Ich glaube, dass gemischte Teams am erfolgreichsten sind, weil sie unterschiedliche Stärken kombinieren. Frauen bringen oft auch eine bessere Kommunikationsfähigkeit und ein ausgeprägteres Gespür für zwischenmenschliche Dynamiken mit. Das ergänzt sich hervorragend mit analytischem und risikoorientiertem Denken, das oft stärker mit traditionellen männlichen Führungsstilen assoziiert wird.
Das Gespräch führten Kirsi Fee Wilhelm und Matthias Gaul
Fotos: Maks Richter