Im Gespräch mit Joanna Lewicka


Der seit 2006 vom Deutschen Bühnenverein zusammen mit der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste und der Kulturstiftung der Länder vergebene Deutsche Theaterpreis „Faust“ gehört zu den renommiertesten Auszeichnungen seiner Art. Im November 2024 ging der Preis unter anderem an die Theaterregisseurin Joanna Lewicka in der Kategorie „Schauspiel“ für ihre „Antigone“-Inszenierung am Theater Plauen-Zwickau. top magazin traf die in Berlin lebende gebürtige Polin, die ihre Jugend in Sulz am Neckar verbracht hat und seit 2020 an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart das Fach „Grundlagen Schauspiel“ unterrichtet, zum Gespräch über ihren Werdegang und ihren künstlerischen Ansatz.

„Theater sollte für alle Menschen gleichermaßen zugänglich sein“

top: Joanna, du bist 1990 im Alter von zehn Jahren mit deinen Eltern aus Schlesien nach Deutschland gekommen – genauer gesagt nach Sulz am Neckar im Landkreis Rottweil. Das war sicherlich erst mal ein Kulturschock für dich.

Joanna: In der Tat. Ich erinnere mich noch an unsere Ankunft in Frankfurt am Main. Nach zwei Tagen im Bus und über 20 Stunden an der Grenze holte uns mein Vater ab – und plötzlich wurde mir bewusst, wie anders hier alles war. Ich hatte eine schöne Kindheit, an die ich gerne zurückdenke. Aber ich war überhaupt nicht auf diese absurd bunte Welt vorbereitet: überall diese Auslagen mit Bananen, Kiwis, Orangen – Früchte, die es bei uns kaum oder gar nicht gab. Von Frankfurt ging es weiter nach Süddeutschland. Dort erlebte ich einen weiteren Kulturschock: die Sprache. Ich konnte zwar ein wenig Deutsch, verstand aber niemanden. Jahre später, als ich längst in einem anderen Teil Deutschlands lebte, hörte ich dann oft: „Eine Schwäbisch sprechende Polin – was für eine Kombination!“  Sowohl sprachlich als auch emotional und visuell gab es also einen Kulturschock.

top: Wann hast du denn die Entscheidung getroffen, ins Theater zu gehen? War das ein langer Prozess oder eher eine spontane Entwicklung?

Joanna: Ich hatte schon immer eine Faszination für Menschen, ihre Geschichten und was sie bewegt und berührt. Ich war durch meine Mutter als Kleinkind schon theateraffin. Damals wurden immer montags Theaterstücke im Fernsehen gezeigt. In Polen hatte das Theater ohnehin einen besonderen Stellenwert, es war nicht nur Unterhaltung, sondern ein Raum des Widerstands. Kunst war in dieser politisch bewegten Zeit ein Ausdruck des Protests und das Theater ein Ort, an dem Denk- und  Handlungsräume geöffnet und verstetigt wurden. So verstehe ich die Kunstform bis heute. Allerdings hatte ich als Kind recht unterschiedliche Zukunftspläne. Zunächst wollte ich Lkw-Fahrerin werden, weil ich Lkws mit Freiheit assoziiert habe – vermutlich durch die vielen und sehr langen Grenzübertritte, die ich miterlebte. Dann wollte ich wieder Politikerin werden – wahrscheinlich auch wegen der Grenzen –,
ich wollte lieber Brücken bauen. Weil ich viel geschwommen bin, konnte ich mir aber auch vorstellen, Berufssportlerin zu werden. Irgendwann merkte ich dann aber, dass das Theater für mich der Ort ist, an dem ich alles, was mich berührt, befragen kann. In meiner Theater-AG in Sulz am Neckar hatten wir eine wundervolle Theaterlehrerin – dadurch kamen wir mit vielen inspirierenden Theaterpersönlichkeiten, auch aus Stuttgart, in Kontakt.

top: Und dann hast du in Frankfurt am Main Theaterregie mit Schwerpunkt Sprechtheater studiert.

Joanna: Genau, ich war sogar eine der jüngsten Studierenden im deutschsprachigen Raum. Meine erste große Produktion habe ich 2006 am Stadttheater Gießen realisiert – das Stück „Die Wolf-Gang“ des belgischen Autors Tom Lanoye.

top: Danach folgte Produktion um Produktion?

Joanna: Erst mal ja, aber dann bin ich irgendwann zurück nach Polen, weil mir etwas gefehlt hat. Rückblickend hatte ich eine Identitätskrise als junge Künstlerin. In Polen konnte ich mich von den teilweise rigiden Theaterstrukturen lösen und freier in und mit anderen Kunstformen arbeiten – Tanz, Oper, Performance. Das Theater zusätzlich außerhalb der gewohnten Sichtweisen und Orte denken – in Museen, Wohnungen, Gefängnissen, Kunst- und Theaterinstitutionen. Neben vielen fantastischen polnischen Kolleg*innen, die mich bis heute in meiner Arbeit begleiten, hat mir Polen das Ausloten von  Theatergrenzen und das Arbeiten an Schnittstellen ermöglicht.


„Sprache, Bilder und Musik sind für mich Ausdrucksformen, die zusammenwirken, um eine Geschichte zu erzählen.“

top: Wie hat sich denn die Auszeichnung mit dem Theaterpreis „Faust“ auf dein Schaffen
ausgewirkt?

Joanna: Total positiv, zumal man ja für diesen Preis von anderen Theaterschaffenden nominiert wird. Der „Faust“ hat gerade deswegen eine so große Wertigkeit, weil die Wertschätzung aus dem eigenen Kreis kommt. Durch einen solchen Preis erhöht sich die Sichtbarkeit unserer künstlerischen Arbeit. Aber eben auch von Themen, die uns Theaterschaffende unmittelbar betreffen: Arbeitsbedingungen, die Zusammensetzung von Teams oder unzureichende Mittel – insbesondere angesichts der verheerenden Kürzungen, die unsere Kulturlandschaft gerade tiefgreifend bedrohen. Ein Preis gibt einem aber auch Energie und die Lust, weiterhin gutes Theater zu machen und diesen Entwicklungen entgegenzuwirken.

top: Wie viele Stücke inszenierst du pro Jahr?

Joanna: Ich versuche, nicht mehr als drei Produktionen zu machen. Viele schaffen deutlich mehr. Mir ist es aber wichtig, mich voll und ganz auf jedes Projekt und die beteiligten Menschen einzulassen – jeder Inszenierung, jeder Begegnung die gleiche Chance zu geben. Ich brauche die Zeit, um zu lesen, zu recherchieren, Ideen und Konzepte zu entwickeln oder zu verwerfen. Ich unterscheide auch nicht zwischen Spielorten oder großen und kleinen Bühnen. Vielmehr versuche ich, alles groß zu denken, auch wenn es dann im kleineren Rahmen stattfindet.

top: Die Zahl deiner Inszenierungen dürfte mittlerweile bei ungefähr 50 liegen. Hat sich dein Ansatz in den Jahren verändert?

Joanna: Das kann ich gar nicht so pauschal sagen. Tatsache ist, dass ich durch das Leben ständig in neue Kontexte gesetzt werde. Dementsprechend verändern sich meine Themen, weil ich auf diese Veränderungen reagiere. Ohnehin sollte Theater für alle Menschen gleichermaßen zugänglich sein. Um ein möglichst breites Publikum zu berühren und mit ihm in einen Dialog zu treten, arbeite ich an Schnittstellen, erzähle die Geschichten in meinen Inszenierungen sinnlich und auf unterschiedlichen Ebenen: durch den Körper, das gesprochene Wort, bildlich über Videoinstallationen und über die Musik. So kann ich jeden individuell abholen. Sprache, Bilder und Musik sind für mich Ausdrucksformen, die zusammenwirken, um eine bestimmte Geschichte zu erzählen.

top: Hast du jemals eine Produktion abgebrochen?

Joanna: Nein, aber es gibt immer Momente des Zweifels. Zweifel sind Teil des kreativen Prozesses. Ich habe gelernt, sie als Verbündete zu sehen. Manchmal muss man eine Probe unterbrechen und einen Spaziergang machen, um neue Perspektiven zu gewinnen. Gerade die schwierigsten Prozesse führen aber oft zu den schönsten Ergebnissen.

top: Kannst du schon etwas zu deinen nächsten Produktionen sagen?

Joanna: In der Saison 2026/2027 werde ich beispielsweise am Nationaltheater Weimar eine zeitgenössische Oper auf die Bühne bringen, am Staatstheater Regensburg mache ich „Manhattan Project“ – ein Stück über Oppenheimer, den „Vater der Atombombe“. Solche Stoffe sind herausfordernd, ja, – aber notwendig, um gesellschaftliche Themen künstlerisch zu verhandeln. Auf beide Projekte und noch eine weitere tolle Arbeit in Detmold freue ich mich schon sehr.

top: Du unterrichtest seit ein paar Jahren unter anderem an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart das Fach „Grundlagen Schauspiel“ und „Rolle“. Welchen Rat gibst du angehenden Theatermachern?

Joanna: Ich sage ihnen immer: Denkt nicht an die schnelle Karriere, seid Langstreckenschwimmer. Denkt nicht in Ideen, sondern in Gedanken.  Theater ist ein Prozess. Behauptet nicht – seid ganz im Moment. Und vor allem: Lest viel! Hinterfragt die Welt – nur um dann wieder von vorne zu beginnen. Diesen Prozess sollte man mit Ernsthaftigkeit, Mut, Demut und vor allem mit viel Lust und Leidenschaft angehen.


Das Gespräch führten Kirsi Fee Wilhelm und Matthias Gaul 
Fotos: José Luis Mendoza

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